Faszinierende Traumwelten - 100 Jahre belgischer Surrealismus


René Magritte, The Cut-Glass Bath, 1946, gouache, private collection © Photothèque R. Magritte, Adagp Images, Paris, 2019


In diesem Jahr feiert Belgien ein künstlerisches Jubiläum von großer Bedeutung - 100 Jahre Surrealismus. Der Bewegung, die die Grenzen des Denkens und der Kunst neu definierte, sind in Brüssel in diesem Frühjahr zwei spektakuläre Ausstellungen gewidmet. Zudem besitzen die Brüsseler Museen eine der größten Surrealisten- und Magritte Sammlungen der Welt, die man einmal gesehen haben sollte.

Der belgische Surrealismus unterschied sich maßgeblich vom französischen und brachte nicht weniger als drei Generationen von Künstlern und ebenso viele Visionen der Realität hervor. Die Ausstellungen im Bozar-Centre for Fine Arts und den Königlichen Museen der Schönen Künste geben nun einzigartige Einblicke in die schöpferische Bandbreite der belgischen Avantgarde-Bewegung und fordern geradezu auf, einen unvoreingenommenen Blick auf die Welt um uns herum zu werfen und ein wenig, wie die damaligen Protagonisten, in unsere Phantasie und Traumwelten einzutauchen. 

1924 veröffentlichte André Breton sein Erstes Surrealistisches Manifest – dies gilt als die Geburtsstunde des Surrealismus, der anfangs eher eine literarische Bewegung war und im Traum das Einfallstor zum Unbewussten sah, später aber vor allem durch die Malerei von Max Ernst, Salvador Dali oder René Magritte populär wurde. Die Surrealisten wollten nicht nur die Kunst, sondern auch das Denken, die Welterfahrung des Menschen und damit die Welt selbst verändern. "Geliebte Fantasie, was mir an dir am meisten gefällt, ist deine Schonungslosigkeit", schreibt André Breton in seinem Manifest.

Die Ausstellung Histoire de ne pas rire. Surrealism in Belgium im Bozar, dem Art Déco-Meisterwerk aus der Feder Victor Hortas, gibt einen einzigartigen Überblick über fast 70 Jahre belgische Kunstgeschichte. Keine einfache Kost aufgrund ihrer Vielfalt mit über 260 Werken und über 100 Zeitdokumenten, die sich aber den Besucher mit einem überbordenden Verständnis und einer Vision der belgischen Surrealisten belohnt.

Paul Nougé, The Juggler, from the series Subversion of images, 1929-1930, photography, Collection Archives & Museum of Literature (AML), Brussels © Rights reserved

"Histoire de ne pas rire" ist ein Ausspruch des Schriftstellers Paul Nougé. Ein wichtiger Denker und Organisator der Surrealisten, der sich oft die Namen für die Werke von René Magritte ausdachte, selbst aber im Schatten blieb. Ein Highlight der Ausstellung: Paul Nougés Traumwelten in seiner 13-teiligen Schwarz-Weiß-Fotoserie Subversions des images, die 1929/30 entstand, aber erst 1968 veröffentlicht wurde. Seine Person und zahlreiche Werke von René Margritte, eher ein denkender Maler als ein malender Denker, bilden den roten Faden der Ausstellung. Die Ausstellungspräsentation spielt mit den Elementen Wort und Bild und ermöglicht so einen Dialog der unterschiedlichen Werke, Künstler und Sichtweisen.

"Ihre Waffe war der Humor", so beschreibt Kurator Xavier Canonne, Direktor des Photography Museum in Charler, die belgischen Surrealisten. So ergibt sich auch der Ausstellungstitel, übersetzt : “eine Geschichte nicht zum Lachen”. Das spiegelt den doppelten Charakter dieser Ausstellung wider. Die Surrealisten waren einerseits ernst: Sie wollten wirklich Dinge in der Gesellschaft anprangern und waren politisch aktiv, aber gleichzeitig ging es auch um das “Lachen”. So eckten Surrealisten immer wieder fröhlich gegen die etablierte Ordnung an. Erotik und Nacktheit waren dabei ein beliebtes Mittel. Gleichzeitig traten die Surrealisten für die Emanzipation ein und unterstützten Künstlerinnen.

Zwei Künstlerinnen nehmen im Bozar eine Sonderstellung ein: Jane Graverol und Rachel Baes. Ihre Gemälde befinden sich meist in Privatsammlungen oder in Museumsdepots und sind daher nicht oft zu sehen. Canonne ist es gelungen, hier eine außergewöhnliche Werksammlung, meist aus Privatbesitz, zusammenzutragen.

Paul Delvaux The Pink Bows, 1937, oil on canvas, Royal Museum of Fine Arts Antwerp - Flemish Community, inv. 2850 © Foundation Paul Delvaux, Sint-Idesbald - SABAM Belgium, 2023, photo: Rik Klein Gotink

Die Ausstellung IMAGINE! in den Königlichen Museen der Schönen Künste ermöglicht dagegen eine andere Art des Eintauchen in die surrealistische Poesie, den Traum, das Labyrinth, die Metamorphose, das Unbekannte und das Unterbewusstsein, angeführt von den großen Namen des internationalen Surrealismus, von Max Ernst, Pablo Picasso, Man Ray, Paul Klee über Joan Miró, Meret Oppenheim bis zu Jackson Pollock.

Eine "Einladung an die Besucher, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, so wie es die Surrealisten taten", so Kuratorin Francisca Vandepitte. Die Schau, die nach ihrer Station in Brüssel in das Pariser Centre Pompidou, nach Madrid und auch die Hamburger Kunsthalle wandert, verschiebt in jeder Stadt ihren Fokus auf eine andere künstlerische Bewegung, von der die Surrealisten beeinflusst waren. In Brüssel geht es mit Künstlerinnen und Künstlern wie Félicien Rops, Léon Spilliaert, Fernand Khnopff oder Jean Delville vor allem um die belgischen Symbolisten. In Hamburg dagegen wird Caspar David Friedrich und die deutsche Romantik eine gewichtige Rolle spielen.

James Ensor, Eccentric masks, 1892, oil on canvas, 100 x 80 cm © Vincent Everarts Photographie

Ferner ist zu erwähnen: Der belgische Surrealismus besitzt auch mit dem in vielfacher Hinsicht alle Konventionen über den Haufen rennenden Symbolisten des Landes deutlich mehr und ältere Vorläufer als die französische Spielart. So sollte man auch unbedingt der James Ensor Ausstellung James Ensor. Inspired by Brussels in der Royal Library of Belgium einen Besuch abstatten. Neben seiner Heimatstadt Oostende und Antwerpen war sein Aufenthalt in Brüssel eine wichtige Inspirationsquelle für den exzentrischen Sonderling, der sich bereits früh der avantgardistischen Vereinnahmung entzog.


Histoire de ne pas rire. Surrealism in Belgium
21. Februar bis 16. Juni 2024
Bozar - Centre for Fine Arts / Rue Ravensteinstraat 23 / 1000 Brussels
Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr

IMAGINE!
21. Februar bis 21. Juli 2024
Royal Museum of Fine Arts of Belgium / Rue de lá Régence, 3 / 1000 Brussels
Dienstag bis Freitag 10-17 Uhr, Samstag und Sonntag 11-18 Uhr

James Ensor. Inspired by Brussels
22. Februar bis 02. Juni 2024
KBR, Royal Library of Belgium / Mont des Arts, 28 / 1000 Brussels
Dienstag bis Sonntag 10-17 Uhr


Anne Harting

Chefredakteurin und Herausgeberin

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