Ed Atkins – Two Burlesques


EVEN PRICKS 2013 HD video 8min. Courtesy of the artist and Fondation Louis Vuitton Photo credits: © Timo Ohler / Louis Vuitton


Welche Wirkung Ed Atkins‘ multidisziplinäre Kunst auf Betrachter hat, umfasst eine große Bandbreite: von ganz persönlichen Empfindungen bis hin zur Anerkennung seines herausragenden Umgangs mit digitalen Medien. Espace Louis Vuitton München präsentiert zur Zeit drei seiner Werke – wer sie in Augenschein nimmt, dem wird bei Eintritt in die Atkin’sche Welt der weiße Teppich ausgerollt.

Jede Ausstellung, die in einer der sechs Espaces Louis Vuitton gezeigt wird, ist einzigartig. Im Rahmen des „Hors-les-murs“-Programms fiel die Wahl für die München Location aktuell auf Ed Atkins, englischer Video- und Performancekünstler, der bereits international mehrfach ausgezeichnet wurde und nach einem Aufenthalt in Berlin nun in Kopenhagen lebt. Für Two Burlesques hat er allerdings einen Abstecher nach München gemacht, denn wer seine Kunst im Espace zeigt, inszeniert sie auch höchstpersönlich.

Von der Wandfarbe über die Couch, auf der Besucher How it’s made (2015) verfolgen, bis hin zu den Maßen der beiden Leinwände für Us Dead Talk Love (2012) und die Lautstärke des dazugehörigen Sounds hat der Kunstschaffende jedes Detail selbst kuratiert. So auch den weißen Teppich, der sich durch die zwei Etagen des Espace zieht und der Ausstellung auf eine subtile Weise eine ganz besondere Atmosphäre wie in einem von der Außenwelt abgetrennten Kosmos verleiht. Ed Atkins‘ Espace ist ein geschützter Raum, der einen Blick in die Gedanken des Performers erlaubt, es aber nicht zulässt, sie zu Ende gedacht auf einem Silbertablett präsentiert zu bekommen oder es sich in seinem Universum gemütlich zu machen. Denn: Atkins‘ bevorzugtes Stilmittel ist die audio-visuelle Disruption. Seine Kunst ein Appell an den Betrachter, den Alltag und vermeintliche Wahrheiten zu hinterfragen sowie eine Einladung, Erinnerungen in der Gegenwart aufleben zu lassen.


EVEN PRICKS 2013 HD video 8min. © Ed Atkins Courtesy of the artist

EVEN PRICKS 2013 HD video 8min. Courtesy of the artist and Fondation Louis Vuitton Photo credits: © Timo Ohler / Louis Vuitton

EVEN PRICKS 2013 HD video 8min. Courtesy of the artist and Fondation Louis Vuitton Photo credits: © Timo Ohler / Louis Vuitton

US DEAD TALK LOVE 2012 Zweikanal-HD-Farbvideo mit Ton /Two-channel HD video, colour, sound 34min.24 © Ed Atkins Courtesy of the artist


Für die Ausstellung wurden drei Videoinstallationen aus dem Sammlungsbestand von Ed Atkins ausgewählt. Während man auf einer weißen Couch sitzt, laufen bei How it’s made You Tube-Sequenzen aus der gleichnamigen englischen Show, die den Herstellungsprozess von Alltagsgegenständen erklärt. Dabei wiederholen sich die Szenen trotz 19-stündiger Laufzeit nicht. Bezeichnend für Atkins‘ Werk: Die Frage nach dem Endprodukt wird nicht aufgelöst, eine bewusste Entscheidung, die auf all seine Werke zutrifft, denn seine Arbeiten haben weder Anfang noch Ende, der Betrachter ist mittendrin. Mittendrin auch in einer Erinnerung – mag sie anfänglich unbewusst sein, wird sie im Verlauf des Films wachgerufen. Parallel dazu ertönt aus dem Lautsprecher über dem Sofa die Lesung von Marcel Prousts siebenteiligem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bzw. nach der Wahrheit, die für Atkins die Gesamtheit aus einer Vielzahl individueller Meinungen und Empfindungen ist. 

Mit der Körperlichkeit und ihrer trügerischen Perfektion in der digitalen Welt befasst sich Ed Atkins in seinem Werk Even Pricks (2013), dessen Titel schon aufgrund der unterschiedlichen Wortbedeutung von „Prick“ Raum für Auslegung lässt. Die 3D-Animation zeigt einen auf den ersten Blick echten Arm mit ausgestrecktem Daumen – bis sich der Arm scheinbar unendlich oft dreht. Dieser Moment zerstört das Ideal, bringt uns zurück zur Menschlichkeit und zu Atkins Hoffnung, nicht nur das Verkopfte zuzulassen, sondern auch dem Bauchgefühl Raum zu geben. Eine ähnliche Rolle, nämlich die, uns das, was den Menschen von anderen Säugetieren abgrenzt zu verdeutlichen, übernimmt der Affe. Trotz der physischen und digital perfektionierten Ähnlichkeiten zum Menschen gibt es letztendlich zwischen Menschen und Primaten doch eine klare Trennung.

Im ersten Stock befindet sich Atkins erste Dolby Surround-Arbeit, Us Dead Talk Love, die zudem erstmalig sein eigenes Gesicht in Form eines Avatars zeigt. Auf zwei monolithischen Wänden wechseln sich Monolog und Dialog ab, untermalt von der Hintergrundmusik aus dem Musical Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street. Auch hier bricht das Menschliche die Perfektion des Digitalen durch Rülps-, Hust- und Räuspergeräusche wieder auf. Ein weiteres „Störelement“ ist das Fehlen jeglichen Bildes, wenn der Betrachter im Verlauf der 34 Minuten und 24 Sekunden unter anderem mit einer großen weißen Fläche konfrontiert wird. Für den Künstler selbst bietet die Performance als Avatar die Möglichkeit, zwischen Autobiografie und Fiktion über alle (Tabu)Themen zu sprechen. Mit diesem Video gibt Atkins dem Besucher erneut die Gelegenheit, mit seinen eigenen Gedanken ein Teilchen zum unendlich großen Puzzle namens Wahrheit beizutragen.


Ed Atkins – Two Burlesques
4. März bis 14. August 2022

Espace Louis Vuitton München / Maximilianstr. 2a / 50539 München
Montag bis Freitag 12-19 Uhr, Samstag 10-19 Uhr


Sabrina Hasenbein

Für PAJO ONE erkundet Sabrina Hasenbein ihre Heimatstadt München am liebsten durch den künstlerischen, kulturellen und kulinarischen Blickwinkel. Allerdings ist die freie Autorin auch gerne überall anders auf der Welt unterwegs - bevorzugt dort, wo sich Meer und Metropole treffen.



Zurück
Zurück

Culinary Timepieces – Es ist angerichtet: Foto- und Kochkunst im Schlachthof

Weiter
Weiter

Room of One’s Own / Part II – Viel (Frei-)Raum für Kunst von Frauen