Es liebt uns nichts. - Ornella Fieres bei Sexauer

Art

© Galerie Sexauer

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Eine Kiste voller alter Briefe. - Sie war mir sofort ins Auge gesprungen, als Ornella Fieres sie auf Ihren Social-Media-Kanälen postete. Vielleicht deshalb, weil sie mich an eine ähnliche Sammlung in unserer Familie erinnerte. 2016 erwarb die Künstlerin etwa 700 Briefe, Karten und Fotos aus den 60er und 70er Jahren. Die Adressatin war eine Frau in Ost-Berlin, die nur wenig Hundert Meter von der heutigen Galerie Sexauer in Berlin Weissensee entfernt wohnte. 

Ornella Fieres hat dieses Konvolut unter Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz über mehrere Jahre in Kunstwerke transformiert, wurde zur Geschichtenerzählerin und gleichzeitig Archivarin von Inhalten, Zeit und Erinnerung. Entstanden sind textbasierte Videoarbeiten, Ready-Made-ähnliche Collagen und Ki-generierte Pflanzenbilder, die aktuell in ihrer dritten Ausstellung  bei Sexauer zu sehen sind und einen Einblick in die Transformation eines Moments in sein Wesen geben.

Die Ausstellung gliedert sich in drei Werkgruppen. Für die Erste ließ Fieres die handschriftlichen Texte von einer auf einem neuronalen Netzwerk basierenden künstlichen Intelligenz in Druckschrift transkribieren. So machte sie die Texte mit teilweise schwer leserlichen Handschriften inhaltlich zugänglich. Manche der über ein halbes Jahrhundert alten Briefe waren noch in Sütterlinschrift verfasst.


© Galerie Sexauer

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Fieres suchte über hundert Textfragmente daraus aus, meist einzelne Sätze, und zeigt diese in der Ausstellung auf drei alten Monitoren. Aufgrund eines Zufallsgenerators wechseln die gezeigten Textfragmente, so dass immer neue Textzusammenhänge entstehen. Manchmal sind die Transkriptionen mit kleinen Fehlern behaftet und verändern Bedeutungen. Eine KI-generierte Stimme bringt die Texte außerdem zu Gehör.

Während Ihrer Durchsicht der alten Brief fand Fieres auch eigene Briefe und Fotografien der Empfängerin, die sie sehr berührten und ein eigenes Abbild der Person entstehen ließen. Sie fütterte diese Fotos in ein KI-gesteuertes Mustererkennungs-Framework, das die daraus extrahierten Informationen mit einzelnen Sätzen beschreibt. 

So besteht die zweite Werkgruppe der Ausstellung jeweils aus einem Originalfoto mit der Beschreibung der Wahrnehmung des darunter liegenden Bildes durch das Netzwerk. Für den Betrachter ist das Originalbild nicht erkennbar. Wir wissen nicht, ob die Beschreibung eine wahre oder falsche Aussage über das Bild ist. Fieres hat die Originalfotos in die Stücke selbst gerahmt, so dass wir nur ihre Versen mit ihren handschriftlichen Inschriften sehen.

An der gegenüberliegenden Wand finden sich Pflanzenbilder, deren eigentümliche Schönheit auch auf KI-basierten Informationen beruht, die die Künstlerin aus typischen Blumenmotiven der in dem Konvolut befindlichen alten Postkarten speiste. Sie haben etwas Malerisches und nahezu Zauberhaftes an sich.

Für uns führen sie letztendlich alle Werkgruppen zusammen, denn trotz all der Transformationen durch künstliche Intelligenz, Rechenvorgänge und maschinelles Lernen scheint das Wesen der Adressatin und Frau, ihres Lebens und ihrer Zeit in der Ausstellung nahezu greifbar und erspürbar. Ermöglicht durch ein stetiges Wechselspiel von Zulassen, Verdecken und Entdecken.


Ornella Fieres - Ich halte es für eine Tragödie, daß wir uns nicht gefunden haben!
02. Dezember 2020 bis 30. Januar 2021

Galerie Sexauer / Streustraße 90 / 13086 Berlin
Mittwoch bis Samstag 12-18 Uhr


Anne Harting

Chefredakteurin und Herausgeberin

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